Wie der Darm unsere Psyche beeinflusst
Um zu kommunizieren, ist der Darm mit dem Gehirn verbunden. Forscher finden immer mehr heraus, wie weitreichend diese Verbindung ist. Nicht nur steht sie im Zusammenhang mit Krankheiten, sie könnte auch die Basis neuer Therapien sein.
Von Melina Runde, tagesschau.de
Die Erkenntnis, welche Rolle die Bakterien in uns für unsere Gesundheit, "ja sogar für unsere Persönlichkeit zu spielen scheinen, war eine der wichtigsten Entdeckungen der letzten 50 Jahre". Das schreibt der US-Amerikaner Anthony L. Komaroff von der Harvard Medical School zur sogenannten Darm-Hirn-Achse. Inwiefern können uns denn Bakterien beeinflussen?
Die meisten Mikroorganismen - also Bakterien, Pilze oder Viren - eines Menschen befinden sich im Darm: Schätzungen zufolge sind es zwischen 30 und 100 Billionen. Sie bilden das sogenannte Darm-Mikrobiom. Diese kleinen Lebewesen regeln unsere Verdauung, produzieren lebenswichtige Stoffe und schützen uns vor Krankheiten. "Der Darm ist über das, was wir zu uns nehmen, in ständigem Kontakt mit der Umwelt", sagt Andreas Stengel, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie. "Und das muss er auch entsprechend rückkoppeln. Das macht er mit dem Gehirn über die Darm-Gehirn-Achse."
Einfluss auf Emotionen und kognitive Fähigkeiten
Erst seit wenigen Jahren beginnen Wissenschaftler zu verstehen, wie unser Darm beziehungsweise sein Mikrobiom mit unserem Gehirn kommuniziert. Beide Organe hängen eng miteinander zusammen, erklärt Stengel, der am Uniklinikum Tübingen als leitender Oberarzt und Stellvertretender Ärztlicher Direktor tätig ist. Verbunden seien beide direkt über die Nerven. Aber auch über im Blut zirkulierende Botenstoffe.
Untersuchungen deuten darauf hin, dass Darm und Gehirn nicht nur kommunizieren, sondern sich auch gegenseitig beeinflussen könnten. "Forschungen in den letzten zehn Jahren haben ergeben, dass Darmbakterien unsere Emotionen und kognitiven Fähigkeiten beeinflussen können", so Komaroff, Oberarzt am Brigham and Women's Hospital in Boston. "Zum Beispiel produzieren einige Bakterien Oxytocin, ein Hormon, das unser eigener Körper produziert und das ein erhöhtes Sozialverhalten fördert. Andere Bakterien stellen Substanzen her, die Symptome von Depressionen und Angstzuständen verursachen."
Tatsächlich zeigte sich vor allem in Tierversuchen ein Zusammenhang zwischen Darm und Psyche. In Tests wurde der Stuhl von ängstlichen Mäusen in keimfreie Mäuse, die kein Mikrobiom haben, übertragen. Woraufhin diese einen ängstlichen Phänotyp entwickelten, sagt Stengel, der seit 20 Jahren zur Darm-Gehirn-Achse forscht. Das Gleiche zeige sich bei Mäusen mit depressionsähnlichem Verhalten oder Übergewicht.
Von Alzheimer bis Autismus
Die Liste ist lang: Insgesamt weisen Personen mit Stoffwechselstörungen, psychiatrischen Störungen oder neurologischen Erkrankungen im Vergleich zu gesunden Probanden "Unterschiede in der Zusammensetzung und Funktion ihres Mikrobioms auf", sagt die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Jane Foster vom UT Southwestern Medical Center in Dallas. Sie forscht mit ihrem Team ebenfalls bereits seit zwei Jahrzehnten zu der Verbindung der beiden Organe.
Konkret stehen unsere Darmbakterien Wissenschaftlern zufolge im Zusammenhang mit Erkrankungen oder Störungen, wie Alzheimer, Parkinson, ALS oder Autismus. So werde etwa die Substanz Synuclein, die im Gehirn von Menschen mit Parkinson-Krankheit vorkommt, von Darmbakterien hergestellt und kann über Nerven vom Darm zum Gehirn gelangen, erklärt Komaroff.
Davon könnten besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts betroffen sein. Sie haben durch die Verbindung ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen, so Stengel. Umgekehrt hätten wiederum auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung ein deutlich erhöhtes Risiko für Magen-Darm-Erkrankungen.
Kausaler Zusammenhang noch unklar
Inwiefern das Mikrobiom psychische Störungen oder Hirnerkrankungen tatsächlich entstehen oder aufrechterhalten lassen kann, kann die Forschung nur schwer sagen. Unklar ist nicht nur, inwiefern sich die Erkenntnisse aus Tierstudien auf den Menschen übertragen lassen. Auch ist nicht geklärt, inwiefern es sich dabei um kausale Zusammenhänge handelt.
"Es ist manchmal gar nicht so leicht, das im echten Leben zu untersuchen", so Stengel. Einen Zusammenhang gebe es zwar deutlich. "Aber was ist Ursache und was ist Folge? Das ist schwierig herauszufinden." Nur beim Reizdarmsyndrom, bei der die Darm-Hirn-Achse gestört ist, wisse man das mittlerweile. Dort könne das Mikrobiom tatsächlich eine mitbedingende Rolle in der Entstehung der Erkrankung spielen, so Stengel.
Die US-Forscher John F. Cryan und Sarkis K. Mazmanian weisen in einem "Science"-Artikel darauf hin, dass ein "ungesundes" Mikrobiom möglicherweise nicht selbst eine Krankheit verursachen, sondern den Menschen weniger widerstandsfähig machen könnte - etwa gegenüber genetischen Risiken, ungesunder Lebensweise oder emotionalen sowie körperlichen Belastungen.
Probiotika für die Psyche?
Dennoch bieten die Erkenntnisse zur Darm-Hirn-Achse erste Ansätze für Therapien. Zum Beispiel könnten mit Probiotika entsprechende Störungen behandelt werden. "Dazu gibt es schon erste Daten, aber wir sind da noch sehr am Anfang", so Stengel. Auch inwiefern eine Transplantation von dem Stuhl gesunder Menschen in den Darm erkrankter Probanden helfen könnte, wird erforscht. Als Behandlung ist das laut Stengel aber bislang nur für die schwere und wiederholte Verlaufsform der Durchfallerkrankung Clostridium Difficile Colitis zugelassen.
Beim Reizdarmsyndrom etwa gebe es noch keine gute Datenlage zum Stuhl-Transfer. Auch sei das nicht ungefährlich. "Weil man durchaus auch unangenehme Dinge mit dem Stuhl übertragen kann, etwa infektiöse Erkrankungen", so Psychosomatiker und Neurogastroenterologe Stengel.
Mikrobiom verändert sich stetig
Zusätzlich sei das Mikrobiom sehr individuell - nicht nur von Mensch zu Mensch. "Heute bin ich aus Tübingen zugeschaltet", sagt Stengel während des Video-Interviews. "Wenn ich mich morgen aus Berlin zuschalten und mich anders ernähren würde, wäre meine mikrobielle Zusammensetzung eine andere - obwohl ich mich womöglich gesundheitlich genau gleich fühlen würde." Auch das erschwere die Forschung. Zwar würden die Messmethoden genauer und die Standardisierung besser, meint Stengel. "Aber wie wir es therapeutisch ummünzen, bis dahin wird es noch ein langer Weg sein."
Ähnlich sieht es Harvard-Professor Komaroff: Die Forschung fange gerade erst an zu verstehen, "wie wir die Mikroben in uns so verändern können, dass unsere Gesundheit verbessert wird". Das könne noch 20 Jahre dauern. "Aber ich denke, wir werden es herausfinden."